Gedenken in Schwalmtal

Eindrucksvoller Abend mit jiddischen Liedern

10. November 2018 um 04:40 Uhr, RP-Online

Schüler der Waldnieler Janusz-Korczak-Realschule unterstützen Daniel Kempin bei einigen Liedern. RP-Foto: Knappe

SCHWALMTAL. Daniel Kempin, Kantor der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, war zu Gast in Waldniel.
Ergreifend sang er vom Widerstand.
Zum 80. Mal jährt sich in diesem Jahr das barbarische Ereignis, das die Nazis in ihrem zynischen Jargon
die „Reichskristallnacht“ nannten. In Waldniel führen seit vielen Jahren die beiden christlichen Kirchen
und die Gemeinde Schwalmtal gemeinsam eine Gedenkveranstaltung durch. Dabei erinnerten sie
meist mit einem Gottesdienst und einem Friedhofsbesuch an die Nacht, in der die SA und ihre Helfer
die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte demolierten und Synagogen in Brand steckten.
In diesem Jahr wurde ein anderer Rahmen für den Vorabend des 9. November gefunden. Man darf
sagen, es wurde ein sehr eindrucksvoller, würdiger und dabei zugleich informativer Abend. Ja, trotz des
schlimmen Anlasses war die Veranstaltung interessant und auf eine dezente und seriöse Art und Weise
sogar unterhaltsam.
Arne Thummes, seit 2000 Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Waldniel, hatte den Kantor der
Frankfurter Jüdischen Gemeinde, Daniel Kempin, kennen gelernt und ihn nach Schwalmtal zu einem
Liederabend eingeladen. Das war eine gute Entscheidung. Kempin, ausgestattet mit einer kraftvollen,
ausdrucksstarken Stimme und außerdem noch ein vorzüglicher Gitarrist, erinnerte mit hebräischen
und jiddischen Liedern im ersten Teil des Abends an an die jüdische Kultur vor Hitler. Während sich für
liberale deutsche Juden die Grenzen zwischen dem jüdischen Lichterfest Chanukka und dem
christlichen Weihnachten allmählich zu verwischen begannen, entstand in Osteuropa eine ganz eigene,
jiddische Kultur mit eigener Sprache und einer Fülle von Liedern. Von denen gab Kempin Kostproben.
Bei einigen erhielt er Unterstützung durch ein spontan gebildetes Vokalensemble aus politisch
engagierten Jugendlichen der Waldnieler Janusz-Korczak-Realschule, geleitet von ihrem Musiklehrer
Marcel Franken. Dem industriellen Massenmord der Nazis, der Shoa und ihren Nachwirkungen, war der
zweite Teil des Abends gewidmet. Ergreifend trug Kempin Lieder aus dem ostjüdischen Widerstand vor,
so wie „Es brennt“ aus der Feder von Mordechaj Gebirtig, der 1942 im Krakauer Ghetto von einem
deutschen Soldaten erschossen wurde. Im Wilnaer Ghetto entstand 1943 „mir leben ejbik“ (Wir leben
ewig). Damit wurde in einer Zeit individueller Hoffnungslosigkeit die verbliebene Hoffnung auf ein
Überleben der jüdischen Kultur artikuliert.
Zwischen den Liedern informierte Pfarrer Thummes über die Geschichte der Waldnieler Juden. Eine
Synagoge ist für das 18. Jahrhundert nachweisbar, ebenso ein jüdischer Friedhof. In der Pogromnacht
kam es auch in Waldniel zu Gewalttaten. Drei Waldnieler Juden überlebten die Shoa. Jüdische
Geschichte verläuft seit Jahrhunderten zwischen Verfolgung und Hoffnung. Das letzte Lied des Abends
fasste zusammen: „A bisserl Sonn, a bisserl Regen“.
(gho)